Das Fernsprechbuch als Zeitdokument

Anmerkungen zu „Menschen in Berlin. Das letzte Telefonbuch der alten Reichshauptstadt 1941“

Ausgabe

Das Archiv 3/2002

Autor: Hartmut Jäckel

Seiten: 20-35

Telefonbücher sind eine rasch verderbliche Ware. Ihr Verfallsdatum ist in aller Regel das Ende des Jahres, das auf dem Umschlagdeckel unübersehbar angegeben ist, sichtbarer jedenfalls als auf einer Milchtüte oder einem Schokoriegel. Ist die vorbestimmte Zeit abgelaufen, erhält der Fernsprechkunde kostenfrei ein frisches, auf den neuesten Stand der Dinge gebrachtes Exemplar. Die ausgemusterten Bände verschwinden zu Hunderttausenden in den großen gelben und blauen Tonnen und werden als Altpapier entsorgt. Taugt ein Gegenstand, dem so übel mitgespielt wird, wenn er seine Schuldigkeit getan hat, als Zeitdokument? Kann uns ein Druckerzeugnis, das außer Namen, Anschriften, Nummern und knappen Berufsangaben nichts von Belang mitzuteilen weiß, bei der Aufhellung und Rekonstruktion längst vergangener politischer und gesellschaftlicher Zustände ernstlich von Nutzen sein? Dürfen oder müssen wir in ihm eine zu Unrecht im Verborgenen sprudelnde historische Quelle sehen? Richtig ist, dass Fernsprechbücher von der Zeitgeschichtsforschung bislang nicht zu jedem Kanon klassischer Quellen und Arbeitsmittel gerechnet werden, die von Staatspapieren und Personalakten, Parlaments- und Parteitagsprotokollen, Gesetzestexten und Gerichtsurteilen bis hin zu Flugblättern und Zeitungen, Briefen, Memoiren und Tagebüchern reichen.

Ein Autor, der es unternimmt, ein Buch über ein Telefonbuch zu schreiben, befindet sich in deshalb in einer wenig komfortablen Position. Mancher meiner Fachkollegen – ich selbst bin in jungen Jahren als Jurist in die Politikwissenschaft übergewechselt – wird meine Publikation „Menschen in Berlin“ wohl eher als Kuriosum, als Ausflug in das Genre einer fröhlichen Wissenschaft denn als seriöse akademische Bemühung zur Kenntnis genommen haben. Ein Buch über ein Telefonbuch? Das ist zwar originell, aber doch ein wenig zum Lachen. So wie es ein Scherz wäre, eine Novelle über den Charme von Autokennzeichen zu schreiben oder ein lyrisches Gedicht über die Geburtenhäufigkeit in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Und ich räume ja freimütig ein: Im Regelfall besteht weder Anlass noch Grund, sich einem Telefonbuch anders zu nähern, als wir alle es tagtäglich tun, nämlich funktionsgerecht und gegenwartsbezogen, auf der Suche nach einer Zahl oder einer Anschrift, die wir nicht im Kopf haben.

(…)