„Leider können wir die von Ihnen gesuchte Person nicht finden.“ Das Grünflächenamt in Frankfurt, zuständig für die Verwaltung der Friedhöfe, hat keine Informationen mehr zu Rudolf Sandalo. Der Fotograf starb am 30. Dezember 1980, 81jährig, und wurde auf dem Bornheimer Friedhof beerdigt. „Soweit uns bekannt ist, starb er allein und ohne Erben zu hinterlassen“, schreiben die Autoren des hervorragend recherchierten Katalogs „Sandalo, Visions of Modernity“, den das Stadtmuseum Brünn im Jahr 2018 herausgab. Auf über 500 Seiten stellt der Band ein beeindruckendes fotografisches Werk vor – und eine rätselhafte Person.
Rudolf Sandalo jr., der am 15. August 1899, vor 125 Jahren, in Bielsko geboren wurde, hat über 25 Jahre lang in Frankfurt gelebt und doch in der Stadt kaum Spuren hinterlassen. Keine einzige Aufnahme ist vorhanden, die ihn persönlich zeigt. Nicht aus früheren Jahren und nicht aus Frankfurt. Im Röderbergweg, wo er dem Eintrag im Telefonbuch nach zuletzt wohnte, erinnert sich niemand an einen Herrn dieses Namens. Barbara Klemm, jahrzehntelang als Fotografin in Frankfurt tätig, kennt ihn nicht, das Architekturmuseum hat keine Aufnahmen von ihm, das Institut für Stadtgeschichte nur zwei Fotografien aus den frühen 1960er-Jahren.
Das Archivinformationssystem Arcynsis kennt ihn mit 39 wenigen Treffern: Im Hessischen Staatsarchiv zeigen Digitalisate den Neubau der Ingenieur- und Staatsbauschule in Darmstadt im Jahr 1965 von dreierlei Seiten, das Archiv des Landeswohlfahrtsamts Hessen hat Fotografien der Heilstätte Schotten im Kreis Büdingen aus derselben Zeit, und das Stadtarchiv Kassel verwahrt Aufnahmen des imposanten Staatstheaters am Friedrichsplatz, die Sandalo im Auftrag des Architekturbüros Paul Bode und Ernst Brundig schuf, vermutlich um 1960.
Angesichts der wenigen bisher bekannten Aufnahmen von Rudolf Sandalo aus seinen Frankfurter Jahren sind Fotografien im Bestand des Frankfurter Museums für Kommunikation durchaus eine Besonderheit. Sie zeigen Innenräume des Bundesministeriums für das Post- und Fernmeldewesen in Bonn, 1954 eingeweiht und heute Sitz des Bundesrechnungshofs, und sie zeigen die Architektur das Fernmeldehochhaus Frankfurt, errichtet ab 1951 und eingeweiht im April 1956.
Pünktlich zum Baubeginn 1951 hatte die Oberpostdirektion Frankfurt eine Lichtbildstelle eingerichtet mit der Aufgabe, „Bildmaterial zu liefern über die Bautätigkeit der BP innerhalb des OPD- Bezirks“. Dieses Material liefert vermutlich zum einen ein festangestellter Fotograf, aber regelmäßig wurden auch externe Lichtbildner beauftragt. Insgesamt rund 40 Motive, die aus dem Bestand des Ministeriums in Bonn und der Oberpostdirektion Frankfurt ins Museum gelangten, teils aufgezogen auf Karton und signiert, zeugen nun vom fotografischen Können Rudolf Sandalos − und hinterlassen einige Fragen. Wer war der Mann, der nun seine Frankfurter Aufnahmen stempelte mit „Atelier de Sandalo, Ravensteinstr. 2, Frankfurt am Main“?
Bald nach seiner Geburt 1899 in der österreichisch-schlesischen Stadt Bielitz (Bielsko) zog seine Familie nach Brünn (Brno), heute die zweitgrößte Stadt Tschechiens, damals mit über 60 Prozent deutschsprachiger Bevölkerung, wo Rudolf Sandalo Senior ein Fotostudio eröffnete. Der Sohn besuchte die Erste und später die Zweite Deutsche Staatsrealschule und half schon früh im Atelier des Vaters, in dessen Fußstapfen er als Partner offiziell Ende 1926 trat. In der Tschechoslowakei, seit Herbst 1918 ein unabhängiger Staat, und, so die Verfasser des genannten Katalogs, vor allem in Brünn, wurde Architektur ein zentrales Thema der Avantgarde und Rudolf Sandalo jr. einer derjenigen, der die modernen Bauten dokumentierte und sich mit den Aufnahmen einen Namen machte. Er fügte, inzwischen verheiratet mit Karola Bochner, einer Bankdirektorentochter, seinem Namen ein feines „de“ hinzu und stempelte Fotografien mit „Atelier de Sandalo, Brünn“.
Rudolf Sandalo fotografierte für namhafte Architekten wie Bohuslav Fuchs, seine Aufnahmen erschienen in Magazine und Fachzeitschriften. Weithin bekannt sind Aufnahmen der Villa Tugendhat, die im Auftrag von Grete und Fritz Tugendhat nach Plänen von Mies van der Rohe 1930 entstanden war. Grete Tugendhat, geborene Löw-Beer, hatte das große Grundstück von ihren Eltern zur Hochzeit bekommen, auf dem van der Rohe einen Bau realisierte, der Außen- und Innenraum in ein faszinierendes Wechselspiel bringt. In mehreren Sitzungen, 1930, direkt nach der Fertigstellung, und wieder 1931, schuf Sandalo Fotografien, die die herausragende Architektur des Gebäudes auf sachliche Weise dokumentieren.
Während kaum ein Jahrzehnt später die jüdische Familie Tugendhat vor den Nationalsozialisten fliehen musste, hatte der zu der Zeit staatenlose Sandalo, der vergeblich die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft beantragt hatte, in Prag ein Fotoatelier eröffnet und 1939 die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Was folgte war die Scheidung von seiner Frau, ein neuer Stempel „Foto de Sandalo, Praha“, Fotografien von Cafés, Theatern, Modesalons und Architektur.
Jedoch: „Rudolf Sandalo also had a dark side“ – so der Katalog am Anfang des Kapitels über Sandalos Zusammenarbeit mit Nachrichtendiensten und „fragwürdige Aktivitäten“ in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Erhaltene Dokumente führen Sandalo als Informant des SD, des Sicherheits- und Geheimdienstes der Nationalsozialisten, später war er zuständig für nachrichtendienstliche Aktivitäten zwischen Prag und Krakau für die „Abwehrstelle Prag“.
Er fotografierte weiter, auch in Berlin für Hitlers Architekt Albert Speer, er handelte in Prag mit Antiquitäten und Kunst – und wurde dort 1945 von den Sowjets verhaftet.
Im November erhielten Mutter und Schwester eine Karte von Sandalo aus dem Lager Tost bei Gleiwitz, wohin er offenbar Anfang August 1945 aus Bautzen verlegt worden war. Von den rund 4600 Gefangenen starben innerhalb weniger Monate über 3300 Personen unter unmenschlichen Haftbedingungen, weitere nach der Entlassung an den Folgen der Inhaftierung. Rudolf Sandalo aber hatte die Haftzeit überlebt – und tauchte Jahre danach in Deutschland wieder auf. Die Zentralspruchkammer Nord-Württemberg stellt ihm, dessen Wohnort nun die Feldbergstraße in Frankfurt war, am 29. Juli 1950 einen „Persilschein“ aus. Dass er weiterhin für Nachrichtendienste tätig war, belegt eine „agent card“ der „Security Service Archives“ in Prag, die auf Sandalos Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst der Tschechoslowakei verweist.
Sandalo meldete sich in diesen Jahren, in denen er sich offenbar in Frankfurt als Fotograf etablierte, nicht bei seiner Familie. Mutter und Schwester, jetzt in Wien, stellten 1963 einen Suchantrag. Seine Karte aus dem Lager, 18 Jahre zuvor geschrieben, war offenbar ihr letzter Kontakt. Um diese Zeit, Mitte der 1960er, entstanden auch die letzten bekannten Fotografien von Rudolf Sandalo in Frankfurt und an weiteren Orten in Hessen: einige Postkarten von Henninger Turm publizierte Sandalo selbst, andere erschienen bei „Foto-Rotation Fritz Brieke Söhne“.
Dass Rudolf Sandalo, vermutlich im Auftrag der Deutschen Bundespost, das Ministerium und das Fernmeldehochhaus fotografieren konnte und damit Zugang hatte zu Räumen, die über die Architektur hinaus politisch und technisch von großer Bedeutung waren, wirft vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte auf die 1954 und 1956 entstandenen Aufnahmen ein besonderes Licht. Gute Fotografien sind es in jedem Fall. Sie erinnern an ein Gebäude, das über Jahrzehnte das Stadtbild geprägt hat. An eines der ersten Großbauprojekte in Frankfurt, das „Frankfurts Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg symbolisierte“, „wie Daniel Bartetzko 2019 in der Frankfurter Rundschau schrieb, „geopfert für die angestrebte Wiederbelebung eines schon vor fünfzig Jahren verlorenen Ideals“.
Das Museum für Kommunikation Frankfurt wird ab 13. November 2024, in einer Ausstellung über das Fernmeldehochhaus Frankfurt, neben Fotografien weiterer Fotograf:innen, auch die Farbfotografien von Rudolf Sandalo jr. zeigen.
Alle Fotos: Rudolf Sandalo / MSPT
Literatur und Quellen:
- Joel Fischer: Der Turmbau zu Frankfurt. Über das Fernmeldehochhaus an der Zeil, in: DAS ARCHIV, Magazin für Kommunikationsgeschichte, Heft 4/2019
- OPD Frankfurt am Main: Das Fernmeldehochhaus in Frankfurt am Main, Frankfurt 1956
- OPD Frankfurt am Main: Das Frankfurter Postzentrum an der Zeil. Eine Reportage in Bildern, Frankfurt 1964
- Stadtmuseum Brünn: Rudolf Sandalo 1899−1980, Visions of Modernity, Brünn 2018
- Dieter Reifarth: Haus Tugendhat, DVD, 2013
- Schreiben der OPD Frankfurt zur Einrichtung einer Lichtbildstelle vom 10. August 1951
- www.arcynsis.de
- www.tungendhat.pandorafilm.de