Georg Thoma: Vom Landzusteller zum Olympiasieger

Autorin: Ulrike Spitz

Georg Thoma, geboren am 20. August 1937 in Neustadt im Hochschwarzwald, war 1960 Olympiasieger in der Nordischen Kombination in Squaw Valley, USA. 1964 wurde er Olympiadritter in der Nordischen Kombination, und 1966 war Thoma Weltmeister in der Nordischen Kombination in Oslo – um nur einige seiner sportlichen Erfolge zu nennen. Ulrike Spitz, selbst gebürtig im Schwarzwald, hat den wohl bekanntesten Ski fahrenden Postboten in seiner Heimat in Hinterzarten besucht.

„Ja klar“, sagt Georg Thoma, „manchmal kommt schon die Erinnerung, wenn man so vor dem Fernseher sitzt und die olympischen Wettbewerbe verfolgt.“ Die Erinnerung also an jenen 22. Februar 1960, als er selbst, damals 22 Jahre alt, im fernen Squaw Valley in der Sierra Nevada Olympiasieger wurde, in der Nordischen Kombination. Aber die Vergangenheit ist ihm nicht so wichtig. „Ich freu mich schon sehr mit den Sportlern, wenn es bei ihnen klappt“, sagt Thoma. Sein Herz schlägt auch für den aktuellen Wintersport. Er war beim Public Viewing in Breitnau oben, dem Nachbardorf seines Heimatorts Hinterzarten, als Fabian Rießle von der dortigen Skizunft in Sotschi die Bronzemedaille in der Nordischen Kombination gewann. Public Viewing – das ist nicht das Einzige, was es noch nicht gab, als Georg Thoma seine Medaillen und Titel gewann.

Dieses hoch professionelle Umfeld der heutigen Athleten – das ist eine völlig andere Welt als zu seiner aktiven Zeit. Andererseits: Auch damals schon hat der Sportler Georg Thoma mit seinem Olympiasieg einen unfassbaren Rummel entfacht. Ihm jubelten plötzlich Zehntausende Menschen zu, er wurde von Empfang zu Empfang herumgereicht. Unbekannte scharten sich um ihn und wollten Fotos und Autogramme, wollten mit ihm reden, ihn anfassen. Das hat er nie gewollt, auf dieser Bühne hat er sich nie wohlgefühlt, darauf war er nicht vorbereitet. Wie auch. Georg Thoma kommt aus einfachsten Verhältnissen. In den Nachkriegsjahren waren alle sieben Thoma-Geschwister zu Hause nicht mehr satt zu bekommen, und so kam der zehnjährige Georg auf einen Hof unterhalb des Feldbergs, um dort das Vieh zu hüten und dem Bauern zur Hand zu gehen. Dieser Umzug auf den Wunderlehof war letztlich ein Glücksfall, denn den bewirtschaftete Ernst Schwörer, einer der besten Schwarzwälder Skispringer und Langläufer jener Zeit. Den hatte der junge Thoma schon lange bewundert. Schwörer wurde sein erster Trainer, sein großes Vorbild und ein guter Freund. Wie Schwörer arbeitete auch Thoma nach Abschluss der Schule als Holzfäller im Wald. Im Winter blieb neben der Arbeit auf dem Hof Zeit zum Skilaufen, anfangs auf alten Holzlatten, später mit mühsam vom kargen Lohn abgesparter modernerer Ausrüstung.

Thoma wurde immer besser. „Wir haben ja gar nicht gewusst, dass das Holzfällen gar kein schlechtes Training war“, sagt er heute. Zudem hatte er schon als Kind durch den zwölf Kilometer langen Schulweg, zu Fuß oder per Ski, die besten Grundlagen geschaffen – unbestritten ist zudem seine außergewöhnliche Begabung sowohl im Springen als auch im Laufen. Obwohl ihm seine Arbeit in der Natur Spaß machte, wechselte er 1958 aus dem Wald zur Post, dort arbeitete bereits sein Bruder Franz. Bei dem hatte er – stets klamm mit dem Geld – im Winter immer Anleihen genommen, im Sommer zahlte er sie wieder zurück. „Dem Franz war das irgendwann zu dumm“, erzählt Thoma, „er hat dann gesagt, du gehst am besten auch zur Post, dann bekommst du jeden Monat Geld und bist auch noch versichert.“ Gesagt, getan. Nach der Prüfung zum Zusteller hat Thoma sich sofort um die eigentlich nicht so begehrten, weil weit auseinandergezogenen Landbezirke beworben. Seine Begründung: „Im Ort waren viele Fremde, die wollten immer mit mir schwätzen. Das war nichts für mich. Auf dem Land kannte ich alle.“

Er hat allerbeste Erinnerungen an die Zeit, in der er mit dem Rad und im Winter auf Langlaufskiern den Leuten die Post brachte und praktisch während der Arbeit trainieren konnte. Unkompliziert ging’s zu in dieser Zeit, in der der Briefträger auch die Rente brachte: „Ich hab dann schon mal ,nicht angetroffen‘ aufs Kärtle geschrieben, wenn ich wusste, da ist es gerade eng mit dem Geld, und das Päckchen erst zugestellt, wenn auch die Rente da war. Das ging alles. Ich hatte tolle Kollegen und tolle Chefs. Ich habe das total gerne gemacht.“ Bis, ja bis März 1960, als er aus Squaw Valley zurückkam. Plötzlich war er der Olympiasieger, er war der „Jörgle“ für alle. Wenn er morgens zum Postamt kam, standen immer schon Menschen da, die etwas von ihm wollten: Sportfans, Kurgäste, Kindergruppen aus Kindergärten, ja ganze Kirchenchöre. Und das war etwas, was ihm überhaupt nicht lag. „Das hat mir schwer zu schaffen gemacht“, sagt er heute. Es war ein so großes Problem für den jungen Mann, dass er – mit 22 – darüber nachdachte, mit dem Sport aufzuhören oder bei der Post aufzuhören und als Holzfäller nach Kanada zu gehen. Aber diesen erfolgreichen Sportler verlieren, das wollte natürlich keiner, und so hat sein Umfeld auf sein Unbehagen reagiert. Thoma reiste nach Bonn zu einem Gespräch mit dem damaligen Postminister Richard Stücklen, dem er nachdrücklich schilderte, dass er das so nicht aushalte. Verhandlungen zwischen Post und Deutschem Skiverband endeten mit einer Sonderregelung für Georg Thoma. Es war letztlich schon eine Art Modell, wie Leistungssport heute organisiert wird: Im Sommer war Thoma Briefträger mit Freistellungen für Training und Lehrgänge, und den ganzen Winter war er sowieso als Sportler unterwegs. Damit entkam er dem Trubel, wenigstens die meiste Zeit. „Die Post war der Schlüssel für mich“, sagt er heute. „Ich habe ja erst da so richtig mitbekommen, was ich bin und was auf mich zukommt.“ 

Auch andere haben es erst da richtig mitbekommen. Konkurrenten, die schon mit mehr wissenschaftlichem Hintergrund trainiert hatten, hat sein Olympiasieg völlig überrascht. Die bis dahin stets überlegenen Skandinavier rissen erstaunt die Augen auf, und vor allem die Ostdeutschen in der damals noch gesamtdeutschen Mannschaft hätten sich immer gefragt, wie denn der Thoma aus dem Schwarzwald alles in Grund und Boden laufen könne. „Die wollten von mir unbedingt wissen, was mein Geheimnis ist“, sagt er, heute noch schmunzelnd.
„Aber ich hatte kein Geheimnis. Es sei denn, das Geheimnis ist, wie ich aufgewachsen und als Hirtenbub schon jeden Tag zwölf Kilometer gelaufen bin.“ 1966 beendete er nach dem Gewinn des Weltmeistertitels am Holmenkollen in Oslo seine Ski-Karriere. Danach hat ihn ein
Ereignis noch nachhaltig beschäftigt: Auf Wunsch des Deutschen Skiverbandes war er Fluchthelfer für den ostdeutschen Kombinierer Ralph  Pöhland, den er nachts aus dem schweizerischen Le Brassus über die Grenze in den Schwarzwald brachte. Thoma, immer hilfsbereit und herzlich, hat Pöhland dann in sein Haus aufgenommen, ihn betreut und unterstützt. Ein Jahr lang hat er bei ihm gewohnt. In dieser Zeit trug er
immer noch die Post aus, ehe er Anfang der 1970er-Jahre seine neue Leidenschaft zum Beruf machte und den Hinterzartener Kurgästen das Tennisspielen beibrachte. Aber wie das so ist mit den Tennislehrern: „Da steht man ja eigentlich nur rum.“ Prompt bekam er Probleme mit Herz und Kreislauf und den ärztlichen Rat, doch mal wieder etwas für die Ausdauer zu tun. Also legte er den Tennisschläger weg und kehrte wieder zurück auf die Ski. Ein Schlüsselerlebnis hat dann zu einer Art zweiter Karriere geführt: Bei einem seiner ersten Volksskiläufe rannte ihm ein älterer Vereinskamerad gleich 15 Minuten davon. Das wurmte ihn so, dass er sein Leben völlig umkrempelte: Ernährung umgestellt, komplett auf Alkohol verzichtet und Training, Training, Training. Als Ergebnis brachte erEnde der 80er-Jahre mit vielen Siegen und vorderen Plätzen bei regionalen Wettkämpfen die jungen Schwarzwälder Langläufer schier zur Verzweiflung. Er tingelte noch einmal ein paar Jahre durch die Welt, lief bei den Skiklassikern wie Wasalauf in Schweden, Marcialonga in Italien und dem heimischen Schwarzwälder Ski Marathon mit, bis auch diese zweite Karriere vorüber war. 

Aber der Sport hat ihn nie losgelassen. Er fährt im Sommer Rad, im Winter Ski. Er hat sich mit seiner nach wie vor ungebrochenen Popularität arrangiert, er wurde irgendwann lockerer, kam mit den Fremden besser ins Gespräch und hat sogar zeitweise im Fernsehen als Co-Kommentator agiert. Ganz geheuer war ihm der Rummel um seine Person allerdings nie. Er war niemals der Ansicht, dass er etwas Besonderes darstellte. Was er gemacht hat, hat er immer aus Überzeugung und mit Leidenschaft gemacht, den Sport, seine Arbeit. Und jetzt das Schwarzwälder Skimuseum, das er mit der Gemeinde Hinterzarten in einem alten Schwarzwaldhof aufgebaut hat, weil ihn die Skigeschichte schon immer brennend interessiert hat. Dort macht er auch Führungen, denn er weiß ja, dass der Name Thoma für die Gemeinde und den Tourismus von großem Nutzen ist.

www.schwarzwaelder-skimuseum.de

 

Ulrike Spitz
war 25 Jahre als Sportjournalistin tätig, unter anderem als Sportchefin der Frankfurter Rundschau, danach als Pressesprecherin und Stellvertretende Geschäftsführerin der Nationalen Anti Doping Agentur (NADA). Seit 2012 arbeitet sie freiberuflich als Kommunikationsberaterin und Autorin. In den 70er-Jahren war sie mehrfach deutsche Jugend- und Juniorenmeisterin im Skilanglauf und gehörte einige Jahre der Nationalmannschaft an.

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