Eine Rezension von Norbert Hummelt
„Früher stand ich den ganzen Tag am Flipperautomat, Discos und Kinos, das bockte nicht mehr“, so erzählt ein Drogenmädchen namens Schneewittchen in dem gleichnamigen Song von Udo Lindenberg, erschienen auf dem Album „Panische Nächte“ von 1977. Wer noch Flipperautomaten kennt, an ihnen gespielt hat, in der Schulzeit, in den Freistunden, wenn die Schule in der Innenstadt lag und eine Spielhalle gut erreichbar war, muss heute alt sein, so um die sechzig, oder wenig jünger.
Foto: Andreas Berner/Wikipedia
Andreas Bernard, Kulturwissenschaftler an der Uni Lüneburg, ist Mitte 50 und hat schon als Kind in München jede freie Minute am Flipperautomaten verbracht. Der Essay, mit dem er an die große Zeit dieser sperrigen Geräte erinnert, die früher in jeder halbwegs proletarischen Kneipe standen, oftmals im Durchgang zu den Toiletten neben dem Zigarettenautomaten untergebracht oder in einer Ecke neben dem Billardtisch, ist eine nostalgische Zeitreise in die siebziger und achtziger, vielleicht noch die frühen neunziger Jahre, und doch viel mehr. Indem er aus seinem reichen Erfahrungsschatz im Kampf mit der silbernen Kugel und den weißen Hebeln schöpft, die dazu da waren, diese Kugel im Spiel zu halten, sie bloß nicht abstürzen zu lassen, erzählt er nicht nur über längst vergangene Zeiten, sondern von der Zeit überhaupt. Wie sie vergeht, oder wie sie, gefühlt, nicht vergeht, und was man tut, um die Leere zu füllen, wenn alles sinnlos und langweilig erscheint, und das tat es oft an den Nachmittagen der Kindheit, besonders sonntags (und davon hat gerade auch Udo Lindenberg immer wieder gesungen, dessen oben zitieren Song Bernard in seinem Buch nicht erwähnt).
Heute hat sich für diese immer länger erscheinenden Phasen der Leere ein sehr kleines Gerät etabliert, das jeder in seiner Hand hält und hervorholen kann in der geringsten Wartezeit. In der Zeit, von der Bernard erzählt, musste man dafür auf die Suche gehen nach oftmals düsteren Lokalen, in denen so ein Flipperautomat stand, und zu denen Minderjährige eigentlich keinen Zutritt hatten. Unter dem Vorwand, zur Toilette zu müssen, ließen sich solche Hindernisse überwinden.
Zweifellos ist der Autor ein ausgemachter Nerd, denn er weiß genau, zwischen den verschiedenen Typen und Fabrikaten zu unterscheiden, die fast ausnahmslos aus Amerika kamen. Sie hießen Harlem Globetrotters oder Pinball Champ 82, Earthshaker oder Startrek: The Next Generation. Sie zeigten Motive aus Science Fiction-Serien oder Fantasy-Sagas, Helden der Rockmusik wie Kiss oder die Rolling Stones. Es ging nicht um Geld, es ging um die Ehre, um Punkterekorde und das Maß an Gewalt, das die Geräte vertrugen, an denen man ruckeln konnte, um ein Game-over zu verhüten, aber auch den sofortigen Tilt erleben, wenn man zu hart vorging. Eine Form von Sex, nur ganz allein betrieben, eine Maschine, ein Mann. Eine vorwiegend weiße, männliche Seite der Populärkultur; entsprechend waren es nur wenige Mädchen, die man an Flipperautomaten treffen konnte, Schneewittchen stellte eine Ausnahme dar, und von einer solchen raren Ausnahme erzählt auch Bernard in seinem Buch.
Gegen die ersten Computerspiele, die den sicheren Untergang der Flipperwelt bedeuteten, rüsteten die Hersteller mit elektronischen Gimmicks. Das mechanische Klackern wurde von schrillen Signalen übertönt. Und nach und nach verschwanden die Flipper aus den Städten. Man sieht sie am ehesten noch in amerikanischen oder italienischen Filmen, auch in alten Schimanski- oder Derrick-Folgen. Nur im Verborgenen gibt es auch heute noch Flippermeisterschaften, in riesigen Hallen, zu denen nur Eingeweihte Zutritt haben. Bernard erzählt mit großer Sachkenntnis und leiser Melancholie von einem Spielgerät und einem unwiederbringlich verlorenen Gefühl, und wenn man sein Buch liest, hat man selbst wieder die Knöpfe in der Hand und kann die Kugel am Laufen halten, für kurze Zeit.
Andreas Bernard: Der Trost der Flipper. Klett-Cotta 2024. 120 S. € 20.- ISBN 978-3-608-98768-3