Anfang April brachte TTT, das Kulturmagazin in der ARD, einen Beitrag über die Virtual Reality-Offensive von Mark Zuckerberg, der 10 Milliarden Dollar in die Weiterentwicklung der VR-Technologie gesteckt hat und den Hype forciert, der in bescheidenerem Maß auch viele Museumsverantwortliche umtreibt. Virtuelle Realitäten würden – so die Prognose, spätestens in 15 Jahren ganz selbstverständlich mit dem echten Leben verschmelzen und nicht nur als zusätzlicher Reiz oder als Lieferant zusätzlicher Informationen auch in Museen eingesetzt werden.

Tatsächlich haben viele Museen bereits wegen Corona neue digitale Angebote geschaffen. Dabei sind Impfaktionen keine Ausnahme, „fantastische“ digitale Formate aber die Regel: virtuelle Rundgänge online, Ausstellungseröffnungen und Theaterpremieren live gestreamt, soziale Medien als Plattform für Kunst- und Kulturangebote in Echtzeit. Die Pandemie hat die Digitalisierung und damit eine Entwicklung beschleunigt, deren Chancen Museen bereits erkannt und, wenn finanziell möglich, umgesetzt haben. Die Digitalisierung von Sammlungsbeständen gehört dazu, die Interessierten jederzeit einen Blick in sonst unzugängliche Depots erlaubt. Dazu neue Vermittlungsformate wie Tweetups, mobile Apps, Multimedia-Guides, Gaming und Podcasts für unterschiedliche Ziel- und Altersgruppen.

Und schon seit einigen Jahren sind im Programm von Museen zudem Virtual- und Augmented-Reality-Angebote zu finden, die Objekte mehr (VR) oder weniger (AR) zum Leben erwecken. 3D-Effekte ermöglichen das totale Eintauchen in andere, fremde oder längst vergangene Welten: der Saurier, als Skelett erstarrt, setzt sich in Bewegung; Möwen, eigentlich nur Pinselstriche auf einem Gemälde, kreischen und heben die Flügel; surreale Gestalten aus Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ ermuntern Menschen zum Eintritt in das fantastische Bild und fordern sie zum Mitspielen auf.

Foto: © MSPT

Das aufwendige Experiment „Delightful Garden VR“ um einen Ausschnitt des Gemäldes „Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch hat das interdisziplinäre Team der Firma TimeLeapVR geschaffen. Producer und Projektmanager, Entwickler, Environment- und Character Artists, Animatoren, Texter, Sounddesigner, Motion- und Face Capture Actors, Voice Over Artists – und keinesfalls nur Männer − trugen ihr Können zu dem Projekt bei, das im Museum für Kommunikation in Frankfurt Jung und Alt gleichermaßen fasziniert hat. Ältere Menschen zeigten sich vor der Kulisse des Bosch-Gemäldes beeindruckt von der Möglichkeit, mit Figuren, entstanden im Mittelalter, zu interagieren. Und das Museumspersonal, das den VR-Neulingen helfend beim Einstellen des Headsets und Gebrauch der Controller zur Seite stand, war begeistert über die Neugier der Menschen, die teils weite Anreisen auf sich genommen hatten für diesen besonderen Kunstgenuss. Kommentare wie „Man macht sich doch zum Affen, mit diesem Gestell auf dem Kopf und den Dingern in der Hand im Nichts rumzustochern“, waren absolut die Ausnahme.

Untrennbar verbunden mit der intensiven Erfahrung virtueller Realität ist die VR-„Brille“, die mehrdimensionale Inhalte transportiert. Im Berliner Naturkundemuseum sind Cardboard-Brillen seit rund fünf Jahren en vogue. 2016 machte das Museum seine Zusammenarbeit mit Google Arts & Culture publik sowie die Möglichkeit, „beliebte Exponate durch Virtual Reality lebensecht zu erfahren“. Die Webanwendung Google Arts & Culture ermöglicht es, Online-Ausstellungen von Museen am heimischen PC oder mobil am Smartphone zu besuchen. Gestartet 2011 mit 17 Museen, präsentierten sich auf der Plattform inzwischen über 2 400 Museen, Galerien, Archive, Bibliotheken, Orchester, Theater und sonstige kulturellen Einrichtungen aus über 80 Ländern.

Eintauchen in Unterwasserwelten, Abheben ins Weltall, das Gewusel in der Erde entdecken und staunen angesichts eines Vulkanausbruchs oder eines Dinosauriers – auch Naturhistorische Museen in Braunschweig und Wien, das OZEANEUM in Stralsund und die Senckenberg Museen beteiligten sich an dem Projekt. Und während im 19. Jahrhundert Panoramen zu den Highlights vieler Museen gehörten, erfunden 1787 als „la nature à coup d’oeil“ − die Natur auf einen Blick“ vom Iren Robert Barker für ein „sehsüchtiges“ Publikum, begeistern heute Objekte und Szenerien in hochauflösenden 3D-Gigapixel-Aufnahmen die Menschen. Für sie bezeugen hyperpräzise 3D-Aufnahmen und fiktive Welten die – leider schwindende – Vielfalt der Arten und die Wunder der Natur.  

Foto © Google Arts and Culture / Stefan Hoederath

Vor rund 150 Millionen Jahren lebte Brachiosaurus brancai (Giraffatitan), Publikumsmagnet und von diesem offiziell „Oskar“ getauft. Der pflanzenfressende Saurier richtet sein Skelett im Berliner Museum über 13 Meter hoch auf. Im 360 Grad-Film, besonders eindrucksvoll mit VR-Brille zu erleben, verlässt der Gigant als fleischgewordene Wirklichkeit seinen Podest und wirft einen Blick in Richtung Museumstechnik im 21. Jahrhundert.

Auch Senckenberg in Frankfurt setzt auf die Faszination von Kindern und Erwachsenen für Dinos − in Kombination mit VR-Technologie. „Der Saal der Dinosaurier wird vor Ihren Augen im tropischen Meer versinken, während die imposanten Exponate aus dem Raum der Fischsaurier vor Ihren Augen zum Leben erwachen.“ Dies, so eine Ankündigung für die Presse, sei nur „ein Vorgeschmack auf das, was Besucher im „Neuen Museum“ erwarte. „Hätten Sie Lust auf einen Spaziergang durch den Weltraum oder auf eine Reise in die Zukunft?“

Möglich sind derart fantastische Touren auch im Gasometer in Oberhausen, wo sich ebenfalls Tiere und Pflanzen via Virtual- Reality-Brille in lebensecht zeigen. In der Ausstellung „Das zerbrechliche Paradies“, zur „schützenswerten Schönheit unseres Planeten“, ist die Virtual Reality Installation „Inside Tumucumaque“ gespickt mit Hightech und bietet einen einzigartigen Blick in die das Regenwaldschutzgebiet Tumucumaque. Wer mag, kann hier dank VR sogar mit einem Kaiman um die Wette schwimmen.

Der Effekt, der sich einstellt beim Gebrauch der VR-Technologie, wird Immersion genannt, für „Eintauchen“ und „Eintreten“ in eine illusorische Welt, die als real empfunden wird. Diese Illusion wird gesteigert durch die Möglichkeit, in der (Schein) Welt selbst aktiv und mitten im Geschehen zu sein – für Nutzer von Computerspielen ein Qualitätsmerkmal. Je lebensechter, desto besser. Steuergeräte, sogenannte Controller in den Händen der Nutzerinnen oder Nutzer ermöglichen die vermeintlich natürliche Interaktion mit der virtuellen Welt. „Das ist weit mehr als 3D, es ist die perfekte Illusion. Weltraum, Berggipfel, Operationstisch, Einrichtungshaus oder Meeresgrund: Alle möglichen Szenarien werden in der räumlichen und lebensnahen Rundumsicht lebensnah erlebbar“, beschreibt die Telekom die Wirkung der Technologie. „Mixed Reality“ ist der Oberbegriff für VR und AR und „die neue Art der Hyperrealität, in der beide Welten kombiniert werden“. Und dies nicht nur im Bereich der Bildung. Mediziner nutzen VR, um bei der Diagnose einer Krankheit zusätzliche Informationen zu bekommen; angehende Chirurgen üben im „Virtual Reality Operating Room“. Zudem hat die Technologie sicher eine Zukunft in der Porno-Industrie, beim Militär und im Tourismusbereich. Warum nicht Ausflüge und virtuelle Treffen an Orten ermöglichen, die Menschen aus eigener Kraft leibhaftig nicht erreichen können?  

(Der vollständige Text erschien in der Ausgabe 2/2022 der Zeitschrift Eyebizz unter dem Titel „Brille auf und ab ins Mittelalter! Virtual Reality im Museum“)

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