Von der Stille zur Dauerbeschallung

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Beschreibung

Von der Stille zur Dauerbeschallung

„Soundscape“ im Wandel

Ausgabe

Das Archiv 2/2005

Autor: Jürgen Bräunlein

Seiten: 6-11

„Hörst Du das Neue, Herr, dröhnen und beben? / Kommen Verkündiger, die es erheben. / Zwar ist kein Hören heil in dem Durchtobtsein, / doch der Maschinenteil will jetzt gelobt sein.“ So schrieb Rainer Maria Rilke 1922 in seinen „Sonetten an Orpheus“ und brachte damit die gewandelte Lautsphäre der Epoche hellhörig auf den Punkt. Die industrielle Revolution in Deutschland hatte das Leben von Grund auf verändert und dabei auch die Geräuschwelten, in denen sich die Menschen bewegten, neu „arrangiert“. Die Verwendung neuartiger Materialien und Maschinen brachte Geräusche hervor, die bisher niemals zuvor zu hören waren: den Lärm der Hydraulikpresse und des Flügelrads, des Pressluftzylinders und der Dreschmaschine, des Webstuhls und des Dampfschiffes.

Waren diese Gerätschaften einer neuen Zeit einmal in Bewegung, erzeugten sie Laute, die schon aus der Ferne Aufsehen erregten: „Kaum betritt man das Städtchen, so dröhnt einem der ohrenbetäubende Lärm einer tosenden, auf den ersten Blick furchterregenden Maschine entgegen. Zwanzig schwere Hämmer werden von einem Wasserrad hochgehoben und sausen mit Getöse nieder, so dass der Boden erzittert. Dieses Rad fabriziert tagtäglich Tausende und Abertausende von Nägeln.“ So beschreibt Henri Stendhal in seinem Roman „Le Rouge et le Noir“ (1830) die Herausbildung einer neuen städtischen Geräuschkulisse. Erstmals in der Geschichte der Menschheit können Gebrauchsgüter in großer Stückzahl hergestellt werden. Das hat seinen Preis, wie man auch in dem Roman „Renée Mauperin“ (1864) der Gebrüder Goncourt lesen kann: „Aus den Kerzenfabriken, den Traubenzucker- und Stärkefabriken, den Zuckerraffinerien, die zwischen dürftigen Grünflächen den Kai entlang standen, stieg ein undefinierbarer Geruch von Fett und Zucker auf, den die Ausdünstungen des Wassers und die Teerdüfte mit forttrugen. Der Lärm der Gießereien und das Pfeifen der Dampfmaschinen zerrissen alle Augenblicke die Stille über den Fluss.“ Zur Disposition stand eine Stille, die Goethe Ende des 18. Jahrhunderts noch mit Pathos beschwor: „Über allen Gipfeln / Ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch, / Die Vögelein schweigen im Walde…“

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