Wenn der Postmann zweimal knittelt. Über Verskunst und Gelegenheitsdichtung

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Beschreibung

Wenn der Postmann zweimal knittelt

Über Verskunst und Gelegenheitsdichtung

Ausgabe

Das Archiv 4/2013

Autor: Norbert Hummelt

Seiten: 6-17

Eine gefühlte Ewigkeit scheint es her zu sein, dass ein Bundespräsident „hoch auf dem gelben Wagen“ beim Schwager vorn saß und sein Organ zum lustig schmetternden Horn erschallen ließ, als sei das Postkutschenzeitalter noch nicht vorbei. Genau genommen war es im Januar 1974, als Walter Scheel das 1879 von Rudolf Baumbach gedichtete und 1922 von dem Berliner Apotheker Heinz Höhne vertonte Lied auf Platz 5 der deutschen Hitparade führte. Gut 30 Jahre später tönte die Post lieber anders, ohne Horn und fernab der Überlieferung. „Better Than The Best“ hieß der von der DSDSGewinnerin Elli Erl gesungene corporate Song der Deutschen Post World Net, der kostenlos an alle Mitarbeiter verschickt wurde. Die mussten jetzt Englisch können, um die Botschaft zu entschlüsseln: „The purpose of the song is to create a sense of pride and community within the group. All managers and employees are encouraged to familiarize themselves and others with the text. Share the spirit!” Firmenhymnen, in Deutschland noch musikalisches Brachland, lagen im Zuge der Globalisierung in der Luft; bei DHL, dem neuen internationalen Partner an der Seite der gelben deutschen Post, galt „Ain’t no mountain high enough“ seit einigen Jahren als Firmenhymne − ein Song mit echtem Ohrwurmpotenzial.

Ob sich irgendein Mitarbeiter mit Ellis Worten aber derart vertraut machen konnte, dass er sie in- und auswendig mit sich trug, so wie es mit Scheels Lied vom gelben Wagen durchaus möglich, wenn nicht gar unvermeidlich ist, scheint ungewiss. Hört man bei Elli genau hin, dann vernimmt man zwar, dass sie „best“ auf „test“ und auf „rest“ reimt, aber im belanglos plätschernden Sound gehen die Reime zu wenig ins Ohr und Herz oder Kopf erreichen sie gleich gar nicht. Dabei gab es Zeiten, als das gereimte Gedicht zur geistigen Hausapotheke aller Stände gehörte. Unter Postlern wurde es sogar besonders gepflegt, wovon die Bände der illustrierten Zeitschrift Das Posthorn ein beredtes Zeugnis ablegen. Die Lyrik war der Pop des 19. Jahrhunderts, mit allen Höhen und Tiefen, die dazu gehören.

(…)

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