Erinnerungen ans Radiohören

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Das magische Auge

Erinnerungen ans Radiohören

Ausgabe

Das Archiv 4/2011

Autor: Norbert Hummelt

Seiten: 18-23

Zuerst ist da nur ein Knistern und Rauschen, aber dann kommen die Klänge aus dem Äther geweht. Wahrhaftig, es ist der „Lindenbaum“ von Franz Schubert. „Paul, die schön’ Musik!“, seufzt Maria. „Dat kommt noch viel besser!“, erwidert ihr Freund, der junge Paul Simon, Sohn des Dorfschmieds von Schabbach im Hunsrück, dreht weiter fieberhaft an den Knöpfen und richtet die Drähte seines selbst gebastelten Empfängers aus. Vor drei Jahren aus dem Weltkrieg heimgekehrt, lässt ihn das Fernweh nicht mehr los, und so ist er einer jener Tüftler geworden, die in den frühen Zwanzigerjahren versuchten, den noch nicht für Privatpersonen zugelassenen Rundfunk auf eigene Faust zu empfangen und sich so die Welt ins Haus zu holen. Das halbe Dorf ist in den Ruinen der Wasserburg Baldenau zusammengekommen, um dem großen Ereignis beizuwohnen, und es funktioniert: „Dat Tal un die Ruine, dat is wie’n jroße Schüssel, da sammele sich die Ätherwelle drin.“ Jetzt erschallt sogar das Hochamt aus dem Kölner Dom aus dem schwarzen Trichter, und der findige Ortsbürgermeister Wiegand erfasst blitzschnell, was die neue Technik einer Übertragung aus der Ferne bedeutet: „Da hätte mir heut Morje gar nit in die Kirch zu gehe brauche.“
Die Szene aus dem Filmepos „Heimat“ von Edgar Reitz erzählt beeindruckend anschaulich, wie die Erfindung des Radios in die abgeschlossene Welt der deutschen Provinz einbrach. Paul Simon, den Pionier, treibt es wieder in die Ferne, er verlässt seine Familie und baut in Detroit eine Elektronikfirma auf. Wiegand dagegen, der begeisterte „User“, der sich als Erster im Dorf einen eigenen Empfänger leistet, fällt auf die Propaganda herein, die bald aus den Volksempfängern schallen wird.

(…)